In umfangreichen Recherchen hat die Sängerin Mariana Sadovska Feldaufnahmen in ukrainischen Dörfern gemacht. Lieder, die dem kollektiven Gedächtnis abhanden kommen sind, fließen in einen Dialog mit dem Komponisten Max Andrzejewski. Ein Album, das die Wunde umreist, den Schmerz, die Hoffnung und die Revolte.
Mariana Sadovska über das Album
Wie passt dieses Stück in diese Zeit?
Ich stehe schon lange auf der Bühne und singe Klagelieder, die emotional sehr aufgeladen sind, oder Kompositionen auf Grundlage von Gedichten ukrainischer Schriftsteller*innen aus den letzten Jahren, die den Krieg thematisieren. Ich frage mich natürlich auch: Wie lässt sich das singen? Ist es richtig, das zu tun? Ich beschäftige mich sehr viel mit traditioneller und ritualisierter Musik. Wenn man Klagelieder singt, so ist eine Funktion, den Schmerz herauszulassen und zu überwinden. Aber, das habe ich über griechische Klagelieder gelesen, es gibt noch eine weitere: Mit der Stimme das Gegenteil zu bewirken. Indem etwas Schreckliches wie ein Bannspruch, eine Beschwörung besungen wird, auf dass das Besungene eben nicht eintritt. Auch in der traditionellen ukrainischen Musik gibt es Wiegenlieder, die wirklich schrecklich sind. Von Ethnomusikolog*innen habe ich gelernt, dass auch sie gesungen werden, damit das genaue Gegenteil eintritt. Das gibt mir jetzt Kraft. Wenn ich singe, dann glaube ich an diese Funktion solcher Lieder. Das gilt auch für die Lieder im Outernational Programm »Songs of Wounding«. Darunter sind Lieder, mit denen der Schmerz ausgetrieben wird. Aber zugleich wird Schmerz von der Schwäche ins Kraftvolle gewendet. Sie geben den Sänger*innen Kraft, aber auch denjenigen, für die gesungen wird.
Die Beschäftigung mit folkloristischen oder ritualisierten Formen zeichnet dein Werk weit über die zurückliegenden acht Jahre hinaus aus. Welches Potenzial siehst du in der Auseinandersetzung mit ukrainischen Gesangstraditionen?
Es war mir schon immer ein Anliegen, dass ich traditionelle Lieder niemals einfach nur nachsingen möchte. Es kam mir von Anfang an unpassend vor, diese Stücke genauso zu singen, wie es in den jeweiligen Dörfern getan wird. Denn ich komme nicht von dort. Ich habe aber auf meinen ethnografischen Reisen gelernt, dass jede Sängerin diese Lieder verändert, und wie sie dadurch immer persönlicher werden. In manchen Fällen ließ sich sogar der Änderungsprozess transparent nachvollziehen. Das habe ich mir selbst als Motto gesetzt: Ich muss diese Lieder nicht originalgetreu nachahmen, sondern sie anders singen und zu etwas Persönlichem machen. Dadurch entsteht neues Leben. Ich arbeite mit Musiker*innen aus dem Jazz, dem Bereich der zeitgenössischen Musik oder der freien Improvisation, und natürlich verändern sich diese Lieder dadurch stark, weil wir ihnen ein neues Leben geben. Das finde ich notwendig, denn so entstehen unfassbar schöne neue Formen.
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Die Lieder
»Nachtigall, Du kleines Vögelchen – warum zwitscherst du nicht? Warum singst du nicht?
Oh, meine Stimme verblasste. Ich habe meine Stimme verloren. Ich habe meine Unschuld verloren.«
Ein Lied aus der Region Polissia im Norden der Ukraine, wo die ältesten rituellen Gesänge überliefert sind. Eines davon ist das Erntelied, ein Ernteritual: Für die Ernte haben sich die Frauen die schönsten Kleider angezogen und besondere Lieder gesungen, um die Ernte zu segnen und die Regenwolken fern zu halten. Jede Frau hat alleine bei der Arbeit gesungen. In den Liedern erzählten sie über ihre Schicksale, ihre Wünsche, ihre Träume, ihren Schmerz.
Ein altes, rituelles Lied. »Ich werde eine Rose am Fluss pflanzen. Ich hoffe, dass der Regen auf meine Rose fallen wird.«
Das Lied singt gegen die Vergänglichkeit. »Oh, meine Jugend ergeht und ich habe das Glück nicht gekostet.« Der Versuch, sie wieder einzufangen, scheitert. »Oh, ich werde nicht kommen, es gibt niemanden, zu dem ich zurück könnte. Du musst dich um deine Jugend sorgen, wie um dein ganzes Wohlergehen.«
Chumaks waren Wagenhändler – im Mittelalter auf dem Land der heutigen Ukraine. Sie transportierten Güter mit Ochsenwägen, wie Fisch und Salz aus dem Schwarzen Meer. Viele alte Lieder sind aus der Chumak-Tradition in die ukrainische Volksmusik übergegangen, so wie dieses. Die Legende sagt, dass die Chumaks vor allem in der Nacht gefahren sind, und die Lieder deswegen so viel Legende in sich tragen.
»Oh, hinter dem Berg, hinter den Klippen knarren die Karren, während sie fahren. (…)
Vorne geht mein Schatz und er spielt Flöte (…)
Wenn er spielt, verdorrt das Gras und mein Herz blutet.«
Wenn ein Waisenkind heiratet, ging in manchen Regionen der Ukraine die ganze Hochzeitsgesellschaft zum Grab der verstorbenen Eltern und sang Lieder wie dieses, um den Segen der Eltern zu erbitten.
»Ich werde eine Nachtigall schicken
Ich werde eine kleine Nachtigall schicken
Um meinen lieben Vater anzurufen
Die Nachtigall hat die andere Welt noch nicht erreicht
Aber mein Vater weiß schon alles
Mein Vater weiß schon alles…«
Die Elektronik-Künstlerin Marta Zapparoli hat sich auf ihre Weise mit den Archiv-Aufnahmen befasst.
Ein Frühlingslied aus der Poltava-Region.
Ein weiteres Lied zur Feier der Ernte.
Live aufgenommen bei den Leipziger Jazztagen und in Berlin
Ein Projekt von Outernational. Kuratiert von Elisa Erkelenz
in Kooperation mit dem Radialsystem Berlin
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Kurbasy: Maria Oneshchak, Natalia Rybka-Parkhomenko
Composition, Arrangement & Montage: Max Andrzejewski
Recording Philip Ruoff
Mix & Master: Martin Ruch & Max Andrzejewski