Indische und europäische Musiker:innen begeben sich auf einen Roadtrip durch Rajasthan. Gemeinsam erkunden sie die mythischen Ursprünge und uralten Erzählungen der Sinti:zze und Rom:nja.
Das Album handelt vom Überleben und von der Kraft, die Sinti:zze und Rom:nja trotz jahrhundertelanger Anfeindungen und dem Versuch der Auslöschung im Dritten Reich überdauern ließ. Zeitgenössische und traditionelle indische Musik sowie Interviewausschnitte und Field Recordings von der gemeinsamen Recherchereise sind die Grundlage für einzigartige Performances und Improvisationen.
Uralte Erzählungen beschreiben die Herkunft der Rom:nja aus Rajasthan. Die Begegnung mit diesem sagenumwobenen Ursprung, bedeutet für die Avantgarde-Musikerin Iva Bittová und das Künstler-Duo Damian und Delaine Le Bas auch eine Bewegung zurück zu einem Teil ihrer Herkunft. Die Reise in das Fremde wird zu einer Reise in die eigene Existenz.
I EXIST – ein Reistetagebuch von Nataly Bleuel
Damian Le Bas blieb schon vor dem Sonnentor auf der Strecke. Das Sonnentor lag auf der anderen Seite dieses riesigen Platzes, auf den die September-Sonne brannte. Gegenüber vom Eingangstor und unterhalb der Treppen, die hoch zum Inneren des Amber Forts führten. Da, wo die Äffchen hockten und orangefarbene Chrysanthemen futterten, die die Touristen als Ketten um den Hals gehängt bekamen. Damian stand noch vor dem Eingangstor. Wie paralysiert, von einem der Souvenirverkäufer, und starrte auf das Elefantenmuster der Täschchen, die der Mann ihm unter die Nase hielt. Der Blick: Sehnsüchtig? Leicht melancholisch, wie die meiste Zeit? Oder traurig? Auf jeden Fall war es ein Blick der Art, die ein Straßenverkäufer sofort deuten kann als: Von dem Mann ist was zu holen! Vom Sonnentor aus überblickten schon die Moguln vor 400 Jahren ihr Reich in Rajasthan und es endete längst nicht an den Mauern, die sich am Horizont über die Bergkämme winden. Im Sonnentor stand nun Damians Reisegruppe, Schweiß auf der Stirn, verdammt heiß, und fächelte sich Wind zu.
„Wo bleiben Damian und Delaine?“, fragt Marc Sinan, der Komponist.
„Der kann sich nicht von den Touri-Verkäufern losreißen“, sagt Hans-Peter Eckardt, der Dokumentarfilmer, mit der Kamera vor dem Gesicht.
Die tschechische Musikerin Iva Bittová, deren Vater, ein Rom, Musiker war, schmunzelte. Sie reiste viel, auf Tournée, sie kannte das. Und war das nicht Damians erste große Reise? Sie ging schon mal weiter, ihr getupftes Seidentuch flatterte im Wind. Da kam Markus Rindt, der Intendant, angelaufen, breites Grinsen im Gesicht, und rief dem Kameramann zu: „Du musst an Damian dranbleiben!“
Es war nämlich so, dass der Künstler Damian Le Bas, der auch schon mal mit Damian Hirst verwechselt wurde, bis vor nicht allzu langer Zeit noch selbst Blumen verkaufte. Auf Straßen und in Pubs. Dass er diese Blicke selbst sehr genau kannte: habenwollende Blicke und abschätzige Blicke. Dass er wusste, ein Leben lang, was Armut bedeutet, Hunger, Draußensein und der Schein, der aus den Taschen der Anderen ragt.
Und den seine Frau, die Künstlerin Delaine Le Bas, in ihrem kleinen bestickten Täschchen trug. Das baumelte über ihrem Kleid, lang und knallbunt, sie hatte es selbst aus Tüchern genäht. Delaine ist ein wandelndes Gesamtkunstwerk, „und zwar ein feministisches“, wie ihr Mann kokettierte.
Sie sah ihn an, seit ihrer Jugend waren sie ein Paar, 30 Jahre schon. Ihr Silberblick unterm feuerrot gefärbten Haar sprach von Mitwisserschaft, Strenge und Humor: „Damian, come on!“
Es war der erste Tag der Reise nach Rajasthan. 6750 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem Damian wohnte, in Worthing/Süd-England. Und 1.200 Jahre nachdem seine Leute von hier losgezogen sein sollen, von Nordwestindien gen Europa.
Seine Leute, das waren die Gipsys. Damian Le Bas nutzte dieses Wort, das über all die Zeiten genauso abschätzig verwendet wurde wie „die Zigeuner“ – um es sich wieder anzueignen und seine Identität selbst zu bestimmen. Denn Damian Le Bas war, wie seine Frau auch, ein Gipsy. Ein Rom also. Oder ein Romany, ein englischer. Mit Vorfahren der Traveller aus Irland. „Ich habe eigentlich nie gewusst, was oder wer ich bin“, wird Damian auf dieser Reise sagen. Und dass er sich in seinem Leben zum allerersten Mal angekommen fühlte als junger Mann in einem Raum, der betitelt war mit dem Begriff:
Außenseiter
Dass drei Kunstschulen ihn wollten, war ihm wie ein Wunder erschienen. Er konnte nicht einmal lesen und war, mit seiner Mutter und seinen Geschwistern, der Straße und dem Gefängnis immer näher als Schulen.
„Ich habe es satt“, wird Delaine am gleichen Ort wie ihr Gefährte sagen, in einem Garten mitten in der Steppe, „so satt, immer von den anderen definiert zu werden, als Roma, als Frau, als Künstlerin!“
Und: „Nie gefragt zu werden: Was könnt ihr eigentlich, was habt ihr uns anzubieten?“
Vinod Joshi kommt selbst vom Dorf, schaffte es aber zum Studium der Soziologie in die Hauptstadt Jaipur. Und liebt die Musik und die Freiheit, nur so lässt sich erklären, warum die weiblichen Musikerinnen wie Raju ihn so dankbar als Vinod Joshi Ji betiteln als hätte er sie gerettet.
Denn: „In unserer Sprache gibt es kein Wort für Freiheit. Vielleicht weil wir da immer sind.“
Die Reise haben Marc Sinan und Markus Rindt 2016 initiiert. Und so machten sich europäische Künstlerinnen und Künstler auf, zum mythischen Ursprung ihrer Roma-Vorfahren, und trafen auf dem Land indische Dorfmusiker. Keine Brahmanen, sondern diejenigen, die am Rand der Gemeinschaften leben, aus niedrigen Kasten, arm, unberührbar, Außenseiter.
Wie fühlt sich das an? Haben wir Gemeinsamkeiten? Sprechen wir eine ähnliche Sprache, in der Musik, körperlich, ästhetisch, emotional, sozial? Erkennen wir etwas wieder, Details oder Gemeinschaft? Ist es ein Back to the Roots oder eher noch mehr, nämlich die Frage: Was macht uns anders, was macht uns aus?
Mit im Gepäck: Aufnahmegeräte, akustische und optische, denn die indischen Musiker und die europäischen Künstlerinnen würden kommunizieren: mit Händen und Füßen so wie Damian; eher über Blicke wie Delaine; und Iva Bittová mit Violine und Stimme.
Drei weiße Autos mit Allradantrieb surrten über holprige Straßen, klimatisiert, sauber, kühl und wirbelten draußen in der Hitze Sand und Staub auf. Es war, als landeten drei Kapseln aus einer anderen Zeit in Rajaldesar, auf dem Wüstenplaneten.
Es war Raju Bhopas Dorf, einige hundert Kilometer nordwestlich der Großstadt Jaipur. Noch im Rollen klebten schon Kinder an den Kapseln, als wären es keine Autos sondern Marmeladengläser.
Raju und ihre Brüder waren das Familienerbe ihres Vaters angetreten. Als Dorfmusiker war der ebenso Dorfpriester und richtete für die einfachen Leute, mit Instrumenten und Gesang, die wichtigen Zeremonien des Lebens aus, Geburt, Hochzeit, Tod. Vor Kurzem war er gestorben, nun mussten seine erwachsenen Kinder ums Überleben der gesamten Sippe kämpfen, dutzende von Menschen auf engstem Raum.